
Bald ist wieder Valentinstag, und damit jährt sich einer der denkwürdigsten Tage meines Lebens. Dabei spielte ich darin eher eine Nebenrolle, zumindest am Anfang. Immerhin fand das Ganze bei mir statt, oder besser gesagt in der Eisdiele meiner Eltern, die über den Winter geschlossen hatte. Denn Sebastian hatte einen sehr speziellen Plan.
Sebastian ist seit Ewigkeiten einer meiner besten Freunde, und oft genug sehen wir Dinge ähnlich. Eine Ausnahme ist vielleicht sein Geschmack in punkto Frauen, denn mit seiner Freundin Natalie konnte ich beim besten Willen nicht warmwerden. Deshalb war ich ziemlich verdutzt, als er mich bei den Vorbereitungen zu unserer Silvesterparty (die ebenfalls in der Eisdiele stattfinden sollte) beiseitenahm, um mir eine Frage zu stellen.
„Ich brauche eine gute Idee“, begann er. „Ich möchte Natalie zum Valentinstag mit etwas ganz Besonderem überraschen. Also nicht einfach ein Rosenstrauß und ein Tisch im ‚Antoine‘, verstehst du?“
Ich hätte mich über ein Essen im ‚Antoine‘ gefreut, immerhin das teuerste Lokal in der Gegend. Als Single mit überschaubarem Einkommen ging ich dort nicht gerade ein und aus. Aber für Natalie war es offensichtlich nicht besonders genug. „In welche Richtung denkst du denn?“, fragte ich.
Sein Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. „Ja, also … Weißt du, Luisa, ich möchte ihr einen Heiratsantrag machen, den Ring habe ich schon. Jetzt brauche ich nur noch eine ungewöhnliche Art, in ihr zu überreichen. Sie steht auf sowas, verstehst du?“
Ich war mir nicht so sicher, ob ich das verstand, aber seinem flehentlichen Blick konnte ich nicht widerstehen. „Ich nehme nicht an, dass sie gern Rätsel löst, oder? Ich hab neulich auf Instagram ein Video von einem Typen gesehen, der hat für seine Freundin ein eigenes Computerspiel entwickelt, und als sie es gelöst hatte, ploppte der Text ‚Marry me‘ auf.“
Er sah mich nachdenklich an. „Computerspiele sind nicht so ihr Ding, aber … Mir kommt da eine Idee. Ich habe nämlich einen Kollegen, der steht auf diese Rube-Goldberg-Installationen. Sagt dir das was?“
Ich hatte keine Ahnung, aber er klärte mich mithilfe eines YouTube-Clips auf. Bei dem Stichwort ‚Rube Goldberg‘ handelt es sich um einen Parcours aus jeder Menge Alltagsgegenständen, der so exakt ausgetüftelt ist, dass auf eine Aktion immer eine weitere folgt. Man setzt einmal etwas in Bewegung und kann dann beobachten, was als nächstes ausgelöst wird, bis das Ganze zum Schluss in einem Spezialeffekt endet.
„Und du kennst jemanden, der solche komplizierten Sachen baut?“, fragte ich ihn ungläubig.
„Nicht ganz so aufwändig“, erwiderte er. „Aber er hat das schon mehrmals gemacht.“ Er wies mit der Hand auf unser Lokal. „Hier hätten wir jedenfalls genug Platz, um so einen Parcours aufzubauen, und zum Schluss erscheint dann die Box mit dem Ring.“ Seine Augen leuchteten. „Mensch, Luisa, das ist es! Das wird so geil!“
Ich muss zugeben, nachdem ich das Filmchen gesehen hatte, war ich auch Feuer und Flamme. Es machte einfach Spaß zuzugucken, wie ein Modellauto gegen eine Kugel fährt, die dann eine schiefe Ebene hinunterrollt, am Ende in einen Trichter stürzt, auf einen Hebel fällt und damit wiederum auslöst, dass eine Flasche umkippt und Wasser in ein Gefäß tropft, bis … Ich hätte stundenlang zugucken können, was passiert, gerade weil es im Grunde eine völlig überflüssige Geschichte ist. Ganz klar, dass ich ihm die Eisdiele für seinen Plan zur Verfügung stellte – ich war selbst total gespannt auf diese Aktion.
Drei Tage später erschien Sebastian mit seinem Kumpel, der sich die Location ansehen wollte. Rouven, ein Bär von einem Mann, nahm jede Menge Maße und machte sich Notizen. Er wollte das meiste mit Dominosteinen machen, sagte er, und nur zwischendurch ein paar witzige Gimmicks einbauen, um die Sache aufzulockern. Ehrfürchtig betrachtete ich die Liste von Dingen, die er dafür verwenden wollte. Die Sache schien Dimensionen anzunehmen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Aber ich hatte damit ja nichts weiter zu tun als das Lokal aufzuschließen und zur richtigen Zeit die Heizung an- und wieder abzustellen.
Dachte ich jedenfalls. Als Rouven dann etwa eine Woche vor dem Valentinstag mit einem Kombi voller Dominosteine und anderer Utensilien erschien, wurde ich direkt als Handlangerin eingesetzt. Sebastian, der eigentlich hatte helfen wollen, stellte sich nämlich als zu zappelig heraus. Er schaffte es kaum, zwanzig Dominosteine aufzureihen, ohne dass einer wieder umfiel und die anderen mitriss. Rouven degradierte ihn schnell zu jemandem, der für uns Döner und Getränke beschaffte oder mal eine Schachtel auspacken durfte, während ich offensichtlich eine ruhigere Hand hatte, so dass Rouven mir einzelne Bauabschnitte zutraute.
Wir bauten vier Tage lang jeden Abend, und Sebastian wurde immer nervöser. „Jetzt hat mir Natalie erzählt, dass sie am 13. Februar mit ihrem Chef nach Stuttgart fliegt und erst am nächsten Tag wieder zurückkommt“, jammerte er. „Was, wenn der Flieger Verspätung hat?“
„Dann starten wir das Ganze entsprechend später“, beruhigte ihn Rouven. Je länger ich ihn beobachten konnte, desto mehr machte er den Eindruck eines Mannes, den so schnell nichts erschüttern konnte. Diese Ruhe braucht man wohl, wenn man so ein Hobby hat. Er hatte schon mal an einem Rekordversuch teilgenommen, bei dem über zwanzigtausend Steine verwendet wurden, erzählte er mir fröhlich. „Dagegen ist das hier Pillepalle!“
Sebastian sah das anders. Für ihn war es alles andere als Pillepalle. Am Tag vorher brachte er die kleine Schachtel mit dem Ring vorbei, die als krönender Abschluss durch den Fall eines ganzen Turms zum Vorschein kommen sollte. Er war das reinste Nervenbündel und traute sich kaum, das Lokal zu betreten, aus lauter Angst, er könnte versehentlich etwas umwerfen.
Dabei hatten Rouven und ich alles sehr gewissenhaft geplant. Sebastian würde Natalie vom Flughafen abholen und durch den Haupteingang bringen, wo sie sich auf einen Stuhl setzen sollte. Wir hatten genug Abstand gelassen, damit auch durch eine unvorsichtige Bewegung nichts passieren konnte. Wenn sie Platz genommen hatte, würde Sebastian eine Domino-Reihe auf dem Nebentisch anstoßen, der letzte Stein fiele von der Tischkante auf den Boden, und von da aus ginge die eigentliche Action los. Im Großen und Ganzen sollte die Kettenreaktion einmal durch den ganzen Raum laufen, vor Natalies Platz in dem Turm enden, der genau in Natalies Blickfeld stand und die Schachtel mit dem Ring verbarg, und zum Schluss ein Herz aus pinkfarbenen Steinen beschreiben, während ein Spielzeugauto die Schachtel mit dem Ring nach vorne fuhr.
Rouven und ich wollten in diesem Moment hinter der Theke stehen, um ihnen möglichst viel Privatsphäre zu gönnen. Wir hätten auch ganz verschwinden können, aber er wollte den Vorgang natürlich filmen. Auch ich wollte mir diese Aktion gern später noch mal in Ruhe ansehen: die Kugel, die von einer Kiste nach unten rollt, der baumelnde Löffel, der letztlich den Turm zum Einsturz bringt, das kleine Auto, das die Ringbox bewegt. Ein bisschen neidisch war ich auch, das muss ich zugeben. Ob sich wohl jemals jemand für mich so viel Mühe geben würde?
Sebastian hatte uns vom Auto aus angerufen und gesagt, dass sie unterwegs waren. Gegen halb acht öffnete sich die Eingangstür. Sebastian schob Natalie in den Raum, die sich ratlos umsah. „Eine Eisdiele? Hat die nicht geschlossen? Ich dachte, wir wollten …“
„Wir haben etwas vorbereitet, das du dir unbedingt ansehen musst“, sagte Sebastian mit seinem charmantesten Lächeln und führte sie zu ihrem Stuhl. „Bitte setz dich doch.“
„Hier?“ Sie zog ihren Mantel aus und nahm zögernd Platz. Ihr Blick schweifte skeptisch über unsere Installation, die durch den größten Teil des Lokals mäanderte. „Was ist hier los, Basti?“
„Warte es ab“, sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln und setzte sich neben sie.
Jetzt würde es passieren. Rouven zwinkerte mir verschwörerisch zu, bevor er sein Handy zückte, und ich beugte mich gespannt über die Theke, um möglichst alles mitzubekommen.
Sebastian schaute Natalie noch einmal intensiv an. „Du weißt, was heute für ein Tag ist?“
„Natürlich!“, stieß sie aus. „Valentinstag! Und wir wollten doch …“
„Pass auf, Schatz!“, unterbrach er sie und drehte sich zur Seite, um den ersten Dominostein anzustoßen. Mit leisem Klackern setzte sich die Reihe in Bewegung.
Natalie krauste verständnislos die Stirn. „Was machst du da, Basti?“ Tatsächlich hatten wir nicht eingeplant, dass sie gar nicht genau sehen konnte, was er da tat. Und deshalb stand sie auf, um einen Blick darauf werfen zu können. Das war an sich auch kein Problem, aber wir konnten ja nicht ahnen, dass sie einen Mantel auf dem Schoß hatte, der ihr jetzt von den Knien rutschte.
Ein voluminöser Wintermantel, der nun zu Boden fiel und sich ausbreitete. Und zwar so, dass er schließlich genau die Spitze des Herzens erreichte und den am weitesten vorstehenden Stein anstieß. Der kippte nicht nur um, sondern setzte die Kettenreaktion auch in beide Richtungen in Bewegung.
„Nein!“, rief ich erschrocken aus und wollte instinktiv nach vorn stürzen, um den Schaden zu begrenzen, aber Rouven hielt mich fest. „Lass!“, seufzte er. „Das kannst du sowieso nicht mehr aufhalten.“
In der Tat. Die Steine fielen rasend schnell auf den Turm zu, schneller als die ursprünglich geplante Strecke, und brachten ihn zum Einsturz – und zwar nicht wie vorgesehen von oben durch die Bewegung des Löffels, sondern von unten. Es sah längst nicht so elegant aus wie auf Rouvens Beispielvideos, sondern bildete einfach nur einen Haufen Dominosteine, die das Kästchen mit dem Ring unter sich begruben.
Das Ganze war in Sekundenschnelle vorbei. Ich erkannte Sebastians bestürztes Gesicht und Natalies, dessen Ausdruck jetzt von verwundert zu genervt wechselte. „Ich weiß absolut nicht, was das jetzt sollte“, sagte sie. „Ich habe Hunger, Basti, und würde jetzt wirklich gern etwas essen gehen. Diese Sandwiches im Flugzeug sind eine Zumutung. Also, können wir?“ Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn Richtung Tür. Uns schenkte sie einen letzten Blick. „Viel Erfolg noch euch beiden! Wir lassen euch jetzt in Ruhe. Ich schätze, ihr möchtet weiter üben.“
Sebastian sah mich an und zog hilflos die Schultern in die Höhe. Dann fiel die Tür hinter ihnen zu.
Ich wandte mich bekümmert an Rouven. „Es tut mir so leid!“
Er zuckte mit den Achseln. „Du kannst doch nichts dafür. Solche Sachen klappen nicht jedes Mal. Vor einer Weile hat sogar mal eine Fliege einen Weltrekord verdorben.“
Ich war froh, dass er es so gefasst aufnahm. Wir hatten fast eine Woche lang jeden Abend in dieses Projekt investiert, und nun standen wir da mit einem Haufen Dominosteine, die ihre Aufgabe nicht erfüllt hatten. „Soll ich einen Besen holen, damit wir die Dinger zusammenkehren können?“, fragte ich ihn.
Rouven schüttelte den Kopf. „Das hat doch sicher Zeit bis morgen. Ich habe nämlich auch Hunger und vorsichtshalber im ‚Mykonos‘ einen Tisch für uns beide bestellt. Ich hoffe, du magst griechisches Essen?“
„Sehr gern sogar.“ Ich rettete nur noch die Ringschachtel. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, um wenigstens den Rest des Abends in besserer Stimmung zu verbringen.
Zwei Tage später hatten Rouven und ich die Eisdiele wieder aufgeräumt und uns für das Wochenende verabredet, um miteinander ins Kino zu gehen. Ich fuhr bei Sebastian vorbei, um ihm den Ring zu bringen. „Sollen wir uns was anderes überlegen für deinen Antrag?“, schlug ich vor.
Er verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht. Sie ist im Augenblick nicht gut auf mich zu sprechen.“
„Wieso? Wegen der verpatzten Domino-Aktion?“
Er schüttelte den Kopf. „Eher nicht. Aber sie hatte erwartet, ich würde einen Tisch im ‚Antoine‘ reservieren, und ich hatte mir nur eine Vorspeisenplatte nach Hause bestellt, um unsere Verlobung zu feiern. Ich hatte noch nicht mal Blumen. Sie war enttäuscht.“
Deshalb war ich nicht überrascht, als Sebastian und Natalie sich kurze Zeit später trennten. Er ist jetzt mit Carina zusammen, die ich mindestens genauso zickig finde.
Ich hingegen bin seitdem mit Rouven zusammen, und das fühlt sich gut an. Wobei er in den letzten Tagen wenig Zeit für mich hatte; er sagt, er muss länger arbeiten, und auch Sebastian lässt nichts von sich hören. Aber er hat sich den Schlüssel für die Eisdiele unter einem fadenscheinigen Vorwand ausgeliehen, und ich habe so eine Ahnung, was mich zum Valentinstag erwartet.
Ich freue mich schon darauf.
Wer mehr über Rube-Goldberg-Maschinen wissen möchte, kann sich hier ein tolles Video dazu anschauen.
Und wer die Geschichte herunterladen oder weiterschicken möchte, findet hier das pdf:
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